Palästina verstehen
Frankreich, Grossbritannien u.a. anerkennen Palästina als Staat, auch ohne Staatsgebiet. US-Präsident Trump und Israels Premier Netanjahu stellen einen 20 Punkte-Plan zur Beendigung des Gaza-Kriegs vor. Was ist von den jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten zu halten? Ein neues Buch hilft einzuordnen.
Zwei Jahre ist es her, dass es der Hamas gelungen ist, Israelis, Jüdinnen und Juden nachhaltig zu re-traumatisieren. Wer sich in der Geschichte auskennt, für den ist dieses Trauma nachvollziehbar, ebenso das Befremden über die offene Sympathie, welche die Hamas-Strategie da und dort gefunden hat.
Die Antwort der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu auf den 7. Oktober ist hinlänglich bekannt: Hamas soll politisch und militärisch nie mehr eine Rolle spielen können. Zur Erreichung dieses Ziels wird ein «Kollateralschaden» von Zehntausenden zivilen Opfern und die vollständige Zerstörung der Lebensgrundlage und Infrastruktur von mehr als zwei Millionen Menschen im Gaza-Streifen in Kauf genommen. Parallel dazu sind die kümmerlichen Überreste der Osloer Abkommen von 1993 bzw. 1995, eine «Sicherheitszusammenarbeit» zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, endgültig zur Makulatur verkommen. Kurz: Der Zionismus, die israelische Staatsideologie, deren Vordenker schon immer von einem jüdischen Staat from the river to the sea träumten, triumphiert. Bis vor Kurzem war gar damit zu rechnen, dass als nächstes die Annexion der West-Bank bekanntgegeben wird.
Der Ende September im Weissen Haus vorgestellte 20-Punkte-Plan erteilt diesem Vorgehen eine Absage. Das war eine Voraussetzung dafür, dass arabische Staaten dem massgeblich vom früheren britischen Premier Tony Blair ausgearbeiteten Plan zustimmten und in den Medien allenthalben Zuversicht verbreitet wird, jetzt könn(t)e im Nahen Osten eine neue Ära anbrechen. Ich halte diesen Optimismus für wenig realistisch, selbst wenn ausgewiesene Kenner des Nahen Ostens wie Reinhard Schulze ebenfalls vorsichtig zuversichtliche Töne anschlagen.
Das Buch zum Konflikt
Wer ein vertieftes Verständnis für die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts gewinnen will, dem sei Rashid Khalidis Buch Der hundertjährige Krieg um Palästina empfohlen. Der Historiker Khalidi, der an der Columbia University in New York bis 2024 den Edward Said-Lehrstuhl innehatte, stammt aus einer alteingesessenen Jerusalemer Familie und war beim Verhandlungsprozess der 1990er Jahre (Madrid, Washington, Oslo) Teil der palästinensischen Delegation. Er erinnert daran, dass noch kein israelischer Ministerpräsident ernsthaft an der Idee einer palästinensischen Staatlichkeit interessiert war. Es wurde auf US-Druck immer nur so viel nachgegeben, dass man die entscheidende Frage nach palästinensischer Souveränität auf die lange Bank schieben konnte. Genau dieses Muster scheint sich jetzt einmal mehr zu wiederholen. Zur Erinnerung: Benjamin Netanjahu, hat noch nie den Hauch eines Zweifels offengelassen, dass ein palästinensischer Staat für ihn ein absolutes No go ist. Die Geschicke des jüdischen Staats lenkt er mit Unterbrüchen notabene seit 1996.
Klar wird durch Khalidis Schilderungen auch, dass die USA nie ein ehrlicher Makler im Konflikt waren. Vereinzelte US-Diplomaten, die das ernsthaft zu sein versuchten, wurden über kurz oder lang auf israelischen Druck hin kaltgestellt. Eine spannende Lektüre ist Khalidis Buch – Untertitel: Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand – auch deshalb, weil Khalidi die Asymmetrie nie aus den Augen verliert, die den weit über 100 Jahre dauernden Konflikt schon immer auszeichnete. Ob militärisch, diplomatisch oder wirtschaftlich, die jüdischen Kräfte bzw. Israel behielten immer die Oberhand. Dabei ist Khalidi ein Insider, der nicht mit Kritik an der palästinensischen Führung in den letzten Jahrzehnten spart. Und er weiss um die Wankelmütigkeit arabischer Regierungen, die ihre eigenen Interessen, nicht zu verwechseln mit denen ihrer Bevölkerungen, stets höher gewichteten als jene der Palästinenser. Was Israel immer gut zu instrumentalisieren wusste.
Lesenswert an Khalidis Buch, das er in sechs Kriegserklärungen gegen die Palästinenser gliedert (1917-1939, 1947/48, 1967, 1982, 1987-1995 und 2000-2014), ist nicht zuletzt sein Rückgriff auf die eigene Familiengeschichte und die Beschreibung des Milieus, aus dem er stammt. Eine Bourgeoisie, die gut lebte im osmanischen Reich und (zu) spät und einigermassen hilflos auf das zionistische Siedlungsprojekt reagierte. Dessen Anfänge beschreibt Khalidi stringent als Fortsetzung imperialer britischer Kolonialpolitik, die explizit mit dem Segen Londons – der berühmten Balfour Declaration von 1917 – vorangetrieben wurde. Ein Projekt, das längst kein Projekt mehr ist. Viel mehr wurden auf dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet so viele Tatsachen geschaffen, dass Israel genauso Bestand haben wird wie die Staaten Nord- und Südamerikas nach der Vertreibung der dortigen Urbevölkerung. Anders als in Irland, Algerien oder Südafrika, schreibt Khalidi, sei ein Befreiungskrieg in Palästina darum niemals zu gewinnen. Ohne Erfolgsaussichten das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen, das kann für Khalidi nicht im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Palästinenser sein. Von einer längst überfälligen Art ausgleichender Gerechtigkeit hat sich Khalidi hingegen keineswegs verabschiedet, im Gegenteil. Wie diese konkret aussehen könnte, wie Juden und Palästinenser – das heisst seit vor-zionistischer Zeit im historischen Palästina lebende Muslime und Christen – dereinst in einem bi-nationalen Staat neben- oder gar miteinander leben könnten, das lässt der Autor offen. Es gäbe Stoff für ein weiteres Buch, das einen ähnlichen Aufklärungswert haben könnte.
Die englischsprachige Originalfassung von Khalidis Buch erschien im Januar 2021. Der deutschen Übersetzung der Autor einige Monate nach dem 7. Oktober 2023 ein Nachwort hinzugefügt.
Rashid Khalidi, Der Hundertjährige Krieg um Palästina, 384 S., 2025, Unionsverlag.
Interview mit Rashid Khalidi in der Frankfurter Rundschau vom 6. Mai 2024