We all shine on
ONE TO ONE - der schottische Dokumentarfilmer Kevin Macdonald hat die New Yorker Jahre 1971 bis 1973 von John Lennon und Yoko Ono auf die Leinwand gebracht. A must see für alle, die sich für Popkultur und Politik interessieren.
Vor kurzer Zeit lief der Spielfilm A COMPLETE UNKNOWN von James Mangold über die Ankunft von Bob Dylan in New York im Jahr 1961 und die darauffolgende Zeit, jetzt also ONE TO ONE, der Dokfilm von Kevin Macdonald, der exakt 10 Jahre später in derselben Stadt spielt.
James Mangold hat New York und dessen Lebensgefühl in den frühen 60er Jahren mit einem Riesenaufwand kongenial für die Leinwand rekonstruiert, Kevin Macdonald hat grossartiges Dokumentarmaterial zusammengetragen, dass die Stadt 10 Jahre später zeigt. New York hat sich radikal verändert.
Rom mag die ewige Stadt, London bis heute die Metropole für Popmusik sein – aber New York, wo die Vereinten Nationen ihren Hauptsitz haben, bleibt auf eigene Weise die Stadt schlechthin. Zumindest für uns Westler:innen. Nicht zuletzt weil New York schon immer ganz anders als der Rest der USA war. Eine zentrale Rolle spielt dabei, dass die USA in unserer Lebenszeit das mächtigste Land der Welt waren, die Schutzmacht Europas mit einer bis heute unerreichten Softpower, Stichwort Hollywood, aber auch mit den Errungenschaften des Silicon Valley bzw. der Künstlichen Intelligenz, die gerade dabei ist, ein Kapitel in der Menschheitsgeschichte mit ungeahnten Folgen aufzuschlagen.
Also. Bob Dylan zog aus, um 1961 von New York aus die Welt zu erobern, John Lennon flüchtete zusammen mit seiner Frau Yoko Ono 1971 aus seiner 29 Hektaren-Villa Tittenhurst Park im Neo-Tudor-Stil unweit von Ascot/UK nach New York. In eine Studentenbude im Greenwich Village. Und drückte dort den Resetknopf, denn so berühmt wie er war damals kaum ein anderer Erdenbürger. Nicht umsonst hatte Lennon 1966 gewitzelt: «Die Beatles sind populärer als Jesus». Das gab damals in den bigotten USA einen ordentlichen Shitstorm, statt Bücher wurden die Schallplatten der Beatles verbrannt. Und Lennon war 1971 in den USA selbstverständlich ein höchst unerwünschter Ausländer.
Die meisten hier im Saal - diesen Text habe ich für eine Einführung anlässlich des Deutschschweizer Kinostarts von ONE TO ONE geschrieben - sind mit der Popmusik des 20. Jahrhunderts gross geworden, die Anfänge in den 1950er Jahren haben wir nicht erlebt, kennen sie aber sehr wohl. Elvis Presley, der sich erfolgreich die Musik der Schwarzen angeeignet hatte. Dylan schöpfte aus der reichen amerikanischen Folk-Tradition und die Beatles schufen von Europa aus ein epochales Werk, das zwar ebenfalls aus dem Rock’n’Roll schöpfte, dazu aber klassische und indische Elemente einfliessen liess. Vor allem aber waren die 1960er und 70er Jahre eine Zeit, in der Popkultur und Politik über Jahre in einer engen Wechselwirkung standen. Kein Wunder also, ist in ONE TO ONE auch von Bob Dylan die Rede. Es war die Zeit als ein gewisser AJ Webermann Dylans Kehricht durchsuchte, um nachzuweisen, dass dieser längst vom “richtigen” Weg abgekommen sei.
Zwischenbemerkung. Ihr werdet nicht bloss einen Film über John Lennon sehen, sondern einen über John Lennon und Yoko Ono, ONE TO ONE eben. Yoko Ono, mittlerweile 92jährig, ist eine der wichtigsten Avantgarde-und Multimedia-Künstlerinnen unserer Zeit. Allerdings ist sie im Mainstream nicht dafür bekannt geworden, sondern als jene Frau, die mitverantwortlich dafür war, dass es mit der Harmonie der Beatles spätestens ab 1968 vorbei war. Yoko war massgeblich daran beteiligt, John Lennon neue Welten zu erschliessen, ihn zu politisieren und zu dem zu machen, wofür er auch in Erinnerung bleibt: Als Polit- und Friedensaktivist, der seine immense Popularität dafür einsetzte, um eine bessere Welt zu schaffen. Zum Teil auch mit einer gehörigen Naivität, was sich aus der Retrospektive natürlich leicht sagen lässt. An der damaligen Ernsthaftigkeit des Paares Lennon/Ono ist jedenfalls nicht zu zweifeln.
Schaut euch ONE TO ONE mit offenen, von #metoo geschärften Augen und Ohren an, denn der Film ist auch gendertechnisch eine aufschlussreiche historische Reise. Ihr erinnert euch: #metoo begann im Oktober 2017 mit dem gleichnamigen Hashtag. John Lennons Statement und berühmtester Song zum Thema stammt aus dem Jahr 1972 und ist auf dem Album SOMETIME IN NEW YORK CITY zu finden: «Woman is the nigger of the world». Warum der Song in ONE TO ONE nicht zu hören ist, bleibt Regisseur Kevin Macdonalds Geheimnis. Denn am gleichnamigen Konzert am 30. August 1972 im Madison Square Garden, das im Film eine zentrale Rolle spielt, war es durchaus auf der Setlist.
1971 – bevor ihr in diese Zeit eintaucht, vergegenwärtigen wir uns nochmals kurz, was das für eine Zeit war. Der Summer of love ist schon vier Jahre her, Woodstock auch schon zwei. Ein Teil der Jugend interessiert sich zunehmend für Politik. Jerry Rubin und andere, die wir im Film kennenlernen, mischen die USA mit der Youth International Party (den sogenannten Yippies) auf. Der Vietnamkrieg wird immer grausamer und – das geht gerne vergessen –, der Republikaner Richard Nixon feiert im November 1972 mit dem Slogan «now more than ever» einen Erdrutschsieg: 49 von 50 Bundesstaaten, über 60 Prozent der Amerikaner:innen, darunter auch viele Junge, bestätigen Tricky Dick im Präsidentenamt. Es sind harte Zeiten für die Opposition und wer sich bei ONE TO ONE immer wieder an heute erinnert fühlt, ist gewiss nicht auf dem Holzweg.
Genau in dieser politisch aufgeladenen Zeit in den USA kommt John Lennon, der irischstämmige Arbeiterbub aus Liverpool, nach New York. Er verbringt viel Zeit im Bett mit Yoko bzw. mit ihr zusammen vor dem Fernseher, sie verbünden sich mit den tonangebenden US-Polit- und Kunstaktivist:innen jener Zeit. Zum Glück laufen oft eine Kamera oder ein Tonband mit. Was der Regisseur damit macht, setzt Massstäbe für den Dokumentarfilm.
Ich habe mir überlegt, hier mit der Frage zu beginnen, wer denn der politisch einflussreichste Popmusiker des 20. Jahrhunderts war. Ich will damit schliessen. Es ist meines Erachtens weder das ewige Enigma Bob Dylan, aber auch nicht John Lennon, trotz seines Vermächtnisses an unsterblichen Polit-Songs: «Imagine», «Power to the people» oder «Give Peace a chance». Ich wähle Bob Marley. Nur der hat mit seiner Botschaft «Get up stand up» die ganze Welt erreicht. Notabene hat Kevin Macdonald, der Regisseur von ONE TO ONE, 2012 den ebenso sehenswerten Dokfilm MARLEY gemacht.
Jetzt aber «Bonne projection!» für ONE TO ONE. Viel Vergnügen beim Eintauchen in eine Zeit, in der es möglicherweise noch etwas einfacher war, an eine bessere Zukunft zu glauben und sich dafür einzusetzen. Es war damals so alternativlos wie es heute ist.
PS. Als Ergänzung zum Film sei das Buch “WE ALL SHINE ON - John, Yoko, and Me” von Elliot Mintz empfohlen. Es erzählt wie der Autor, ein namenloser Radio-DJ aus Los Angeles, zu jenem Menschen wurde, der John und Yoko in den 1970er Jahren bis zu Lennons Ermordung am 8. Dezember 1980 wohl am besten und persönlichsten kannte.